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Titel
Fritz Hartung. Korrespondenz eines Historikers zwischen Kaiserreich und zweiter Nachkriegszeit


Herausgeber
Kraus, Hans-Christof
Reihe
Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 76
Erschienen
Anzahl Seiten
XIV, 889 S.
Preis
€ 119,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Winfried Schulze, Ludwig-Maximilians-Universität München

Den meisten Historikern der älteren Generation wird Fritz Hartung (1883–1967) als der Verfasser einer deutschen Verfassungsgeschichte bekannt sein, die es seit ihrer ersten Auflage im Jahr 1914 auf insgesamt neun Auflagen brachte und damit zu einem echten Standardwerk wurde. Man wird den langjährigen Berliner Ordinarius für Neuere Geschichte sicher nicht zu den wirklich Großen unseres Fachs rechnen können, aber es kann kein Zweifel daran bestehen, dass der vor allem als Verfassungshistoriker, aber auch als allgemeiner Neuzeithistoriker bekannt gewordene Hartung eine Persönlichkeit ist, deren Briefe besonderes Interesse beanspruchen können. Nicht nur wegen seines prominenten Berliner Kollegenkreises (unter anderen Albert Brackmann, Otto Hintze, Otto Hoetzsch, Friedrich Meinecke, Gustav Meyer) und seiner persönlichen Verbindungen zu anderen bekannten Historikern wie Siegfried A. Kaehler oder Gustav Aubin, sondern auch wegen seiner guten Vernetzung in der Zunft und vor allem wegen seiner strategischen Funktionen als Dekan während der frühen 1930er-Jahre, Herausgeber der „Jahresberichte für deutsche Geschichte“ und Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften seit 1939 sowie schließlich als Mitglied des Ausschusses des Historikerverbands, wo er bis 1958 die ostzonalen Historiker vertrat. Seine Briefe bieten ein sehr lebendiges Bild der Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft zwischen 1906 und 1967, vor allem ihrer politischen, aber auch ihrer gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Zudem gewähren sie einen sehr lebendigen Einblick in die Lebens- und Arbeitsumstände eines Gelehrten dieser Epoche, der zwei Kriegsniederlagen, die Bombardierung Berlins und die Nöte der unmittelbaren Nachkriegszeit erleben musste.

Hartungs Karriere verlief anfänglich keineswegs so glatt und problemlos, wie es die spätere Berufung nach Berlin nahelegt. Als Schüler Otto Hintzes (mit dem er nie in ein engeres Verhältnis trat) mit einem starken Interesse an Verfassungsgeschichte ausgestattet, fasste er, betreut durch Richard Fester, in der frühneuzeitlichen Geschichte Fuß und überzeugte durch seine Edition der fränkischen Reichskreisakten und seine Habilitationsschrift zur Reichsgeschichte unter Karl V. Eine relativ lange Phase als Hallenser Privatdozent ließ ihn trotz bemerkenswert vieler und positiv wahrgenommener Publikationen beinahe an der Möglichkeit einer Professorenlaufbahn zweifeln, bis ihm der Ruf an die Universität Kiel 1922 endlich den Karrierebeginn ermöglichte und alternative Berufsmöglichkeiten als Archivar unnötig machte. Schon ein Jahr später folgte Hartung einem Ruf an die Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, wo er den Lehrstuhl seines Doktorvaters besetzte und ihn bis zu seinem Ausscheiden durch vorzeitige Emeritierung im Jahr 1948 behielt. Als Dekan in der Zeit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten und als Verteidiger der alten Universität gegen den Machtanspruch der Kommunisten nach 1945 erlebte Hartung vielfache Konflikte, deren Kommentierung den Reiz seiner Briefe ausmachen. Er blieb der Universität unter den Linden trotz vielfacher Konflikte treu bis zur Emeritierung, auch wenn die neue Universität im Westen Berlins, deren Zukunftsfähigkeit er bezweifelte, ihn zu gewinnen suchte.

Die Auswahl der Briefe, die Hans-Christof Kraus vorgenommen hat, stützt sich auf Hartungs Nachlass in der Berliner Staatsbibliothek sowie auf die Nachlässe der Briefpartner, wobei ausschließlich die Briefe Hartungs ediert wurden. Ein umfangreicher Fußnotenapparat zu erwähnten Personen und Sachverhalten erleichtert die Lektüre ebenso wie Querverweise zwischen den Briefen. Den Schwerpunkt bilden die ca. 100 (von insgesamt 343) Briefe an den „sehr verehrten lieben Herrn Geheimrat“ Fester (der bei Hartung de facto die Rolle des Doktorvaters einnahm) und an seinen Freund aus Hallenser Tagen Siegfried A. Kaehler („Lieber Kaehler“), während die anderen Briefpartner sich relativ gleichmäßig auf die Lebensphasen verteilen. Gerhard Ritter und Hans Rothfels tauchen vorwiegend nach 1945 auf, während Albert Brackmann, Willy Andreas oder Hermann Aubin den Briefschreiber lange begleiteten. Insgesamt ist die Auswahl der Briefe sehr gut gelungen, alle wichtigen Beziehungen Hartungs werden abgedeckt, kritische Briefe finden sich ebenso wie freundliche und freundschaftliche, Briefe an Familienmitglieder (die Mutter vor allen) gibt es nur wenige. Zuweilen muss man Wiederholungen von Sachverhalten in Kauf nehmen, wenn etwa Hartung seinen unterschiedlichen Briefpartnern kurz hintereinander von seinen Reisen und (häufigen) Sanatoriumsaufenthalten oder bestimmten Vorfällen in Fakultät oder Akademie berichtet. Die technische Edition der Briefe ist weitgehend problemlos, seine Handschrift ist gut lesbar, seit den frühen 1920er-Jahren benutzte Hartung eine Schreibmaschine.

Der Herausgeber hat der Briefedition eine 38 Seiten lange Einleitung zu „Persönlichkeit und Lebenswerk“ vorausgeschickt, die, auf der Vorarbeit des Hartung-Schülers Werner Schochow aufbauend, zum einen die wichtigen Karriereschritte skizziert, zum anderen aber auch eine insgesamt überzeugende Bilanzierung seiner Verdienste und Grenzen vornimmt. Kraus’ Bewertung schwankt zwischen der Anerkennung für Hartungs wissenschaftliche Produktivität und nüchterne Sorgfalt, seine wichtige Rolle im institutionellen Gefüge der beiden deutschen Geschichtswissenschaften und seinem Aushalten unter schwierigen politischen Bedingungen sowie der leisen Kritik, die Zeichen der Zeit nach der Spaltung Deutschlands nicht erkannt und vergebliche Kämpfe gegen die Politisierung von Universität und Akademie geführt zu haben. Für den Historiker, der letztlich in der Reichsgründung den Höhepunkt der neueren deutschen Geschichte sah, konnte die Spaltung Deutschlands nur wenig Anlass zur Hoffnung geben. Während andere deutsche Historiker spätestens seit der Gründung der Bundesrepublik den Schwenk nach Europa vollzogen, bezweifelte Hartung noch 1961 mögliche Zukunftsperspektiven für Deutschland.

Die Lektüre der Briefe übt eine gewisse Faszination aus, im Nachhinein muss man Kollegen wie Fritz Hartung aber auch Gerhard Ritter dankbar sein für ihr emsiges und ausführliches Briefeschreiben: Man verfolgt in gemessenen Schritten den Lebensweg eines Historikers, der seit Kindesbeinen an unter starken gesundheitlichen Problemen (Lungenerkrankung) litt, taucht in die Organisation der Geschichtswissenschaft ein, lernt bekannte Historiker aus dem Schüler- oder Kollegenblickwinkel kennen, erkennt die politischen Zwänge und Versuchungen (so etwa die einzige Unterschrift eines Briefs „mit deutschem Gruss und Heil Hitler“ ) an Ernst-Rudolf Huber, kann seine Kritik an langdauernden Kommissionssitzungen und Projekten (etwa die ihm wenig Freude machende „unglückselige“ „Neue Deutsche Biographie“) ebenso verstehen wie seine Nüchternheit und Genauigkeit, mit der er seine Wissenschaft betrieb und immer wieder verteidigte, auch wenn das – wie im Dritten Reich – politisch nicht opportun war. Deutlich wird auch die tiefe Differenz zwischen der von Meinecke und seinen Schülern entwickelten geistesgeschichtlichen Methode und Hartungs institutionengeprägtem Blick auf die Geschichte; zwischen beiden Kollegen scheint eine Art Nichtverhältnis existiert zu haben. Erst im hohen Alter wird Respekt für Meinecke erkennbar, der nach dem Zusammenbruch 1945 noch einmal publizistisch hervortrat und sich – anders als Hartung – beim Aufbau der Freien Universität Berlin engagierte.

Der Herausgeber lässt in seiner Einleitung auch keineswegs aus, dass Hartung einerseits zuweilen antisemitische Ressentiments hegte, nicht ohne andererseits die Ungerechtigkeit zu beklagen, dass 1933 Fakultätskollegen entlassen wurden. Dem gefährdeten Hans Herzfeld galt seine dauernde Hilfsbereitschaft. Der grundkonservative Hartung, der der Weimarer Republik nicht aus Überzeugung diente, ist in seiner erkennbaren Distanz sowohl zur Wissenschaftsverwaltung des Dritten Reichs wie zu der der frühen DDR ein aufschlussreiches Beispiel für die – sicher begrenzten, aber doch existierenden – Möglichkeiten eines renommierten und etablierten Wissenschaftlers, sich den Zumutungen der Politik zu entziehen. Immer wieder wird aus den Briefen das notwendige Abwägen zwischen dem geforderten „Mitmachen“ und der Abwehr zu weit gehender Forderungen erkennbar. So verfolgte Hartung im Dritten Reich die Publikation der Aufsätze seines Lehrers Otto Hintze mit großem Engagement, war aber auch klug genug, einen Aufsatz auszulassen, der von der zuständigen Parteiinstanz nicht gewünscht wurde. Ähnlich pragmatisch verhielt er sich bei der versuchten Einflussnahme der DDR-Kultusverwaltung bei der Kontrolle der „Jahresberichte“.

Die Edition der Briefe Fritz Hartungs ist ein rundum gelungenes Unternehmen. Wer immer die Historiographiegeschichte des 20. Jahrhunderts studieren will, findet mit dieser Publikation einen guten Einstieg, auch wenn es sich persönlichkeitsbedingt eher um politische und organisatorische Fragen und weniger um theoretisch-methodische Problemstellungen unserer Wissenschaft handelt.

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